Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 11: Die Fahrt nach Deutschland

Auszug aus dem Buch: Die Flucht von Seehorst, Bruno Gässler, von mir bearbeitete Version von Abbildung 2
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Übersichtskarte Donau, Quelle: Wikipedia Die meisten unserer Landsleute hatten noch nie ein Schiff gesehen, höchstens mal das Linienschiff auf dem Liman von Kossa nach Akkerman, und das nur von der Ferne. Auf dem Liman, der sehr seicht ist, etwa wie der Plattensee, ankerte der Dampfer weit draußen auf dem See, und die Passagiere wurden mit einem Boot zum Dampfer hinausgebracht oder auch von dort abgeholt.

Doch nun ging unsere Reise mit dem Donauschiff in Richtung Deutschland. Das war vielleicht ein Gefühl, wir auf so einem großen Schiff! Wenn es auch weit überladen war, denn jede Ecke war als Liegestätte oder Nachtlager mit Matratzen und Strohsäcken ausgelegt, es war eben ein Schiff, und für uns Kinder ein neues und spannendes Erlebnis, das wir voll genossen. Langsam verging das Staunen, und der Alltag kehrte zurück.
Der Alltag mit viel Langeweile, denn ein Tag auf so engem Raum ist nichts für Lausbuben. Dies sollte am meisten der Kapitän erfahren, der uns immer im Auge haben musste. Uns fiel stets etwas Neues ein. Zu unsern Einkäufen am Kiosk gehörten auch Zigaretten, denn man wollte doch das Rauchen probieren. Als geheimes Lager benützten wir das Beiboot, das mit einer Plane abgedeckt war. Doch der Käpten hatte von der Brücke aus alles im Blickfeld und uns das Vorhaben sehr schnell versalzen. Wir waren über und unter Deck zu finden, hatten aber immer den Käpten im Nacken.

Die Schönheit der Landschaft zu beiden Seiten der Donau beeindruckte auch uns Lausbuben, denn zum ersten Mal sahen wir Wälder, Berge, Hügel und Felsen, die Abwechslung war groß. Den Höhepunkt bildeten die Karpaten, vor allem das Eiserne Tor, wo sich die Donau durch ganz enge Felsspalten durchquält. Die Strömung war dort so stark, dass das Schiff trotz voller Maschinenkraft nur im Schritttempo voran kam. Der Kapitän, der zuweilen auch nett sein konnte, hat ganz ernsthaft erklärt, dass wir vielleicht schieben müssten, wenn die Maschinen es nicht schafften.
Die Fahrt auf der Donau ging bis Semlin, dem Hafen von Belgrad. Mit viel Tamtam wurden wir dort empfangen und hatten in riesigen Zeltlagern Unterkunft gefunden, bis dann die Fahrt über Wien in den Sudetengau per Bahn weiter ging.

In Karolinengrund, in der Nähe von Marienbad, war vorläufig Endstation. Die Einheimischen begafften uns etwas merkwürdig und sichtlich enttäuscht. Als dann eine unserer Frauen beherzt nach dem Grund fragte, bekam sie zur Antwort: „Ihr seid ja gar keine Schwarzen!“ Die Leute hatten gehört, dass wir Bessaraber sind, und dachten, alle Araber seien schwarz oder zumindest braun.
Was hatten wir erst für einen Eindruck gemacht, als wir staunend und etwas ängstlich vor dem riesigen Tannenwald standen! Nie zuvor hatten wir so große Tannen geschweige denn einen ganzen Wald aus der Nähe gesehen. Es war sehr befremdend - ein Urwaldaffe, in der Großstadt ausgesetzt, würde kaum verdutzter dreingeschaut haben.
Es dauerte geraume Zeit, bis wir uns trauten, ein paar Schritte in den Wald hineinzugehen.
Vorübergehend, wie es hieß, fanden wir notdürftig Platz in einer Gaststätte mit einem großen Tanzsaal. Dieser Saal war vollgestopft mit Stockbetten, die uns als Ruhestätte dienten. Der Aufenthalt in Karolinengrund dauerte fast ein Jahr. Für die Erwachsenen eine seelische Folter, aber für uns Kinder eine Zeit mit neuen Eindrücken und Erlebnissen.

Nachtrag von Angelika Di Girolamo: 

1. Die lange, beschwerliche Reise von Eigenheim, heute Seleniwka (Ukraine) nach Karolinengrund (Dolní Karlín) in der Nähe von Marienbad, heute Mariánské Lázně (Tschechien) erstreckte sich über eine Entfernung von rund 2000 km !!, davon etwa die Hälfte auf der Donau, bis Belgrad.

Nach fast einjährigem Aufenthalt in Karolinengrund folgte die Fortsetzung der Umsiedlung nach Seehorst, im von Deutschland okkupierten polnischen Gebiet, heute Trlag, Polen. 

2. "Die Bezeichnung „Bessarabien“ (rumänisch Basarabia, gagausisch Basarabiya) leitet sich vom walachischen Fürstengeschlecht Basarab ab, das dort im 13. und 14. Jahrhundert herrschte, und hat nichts mit Arabien zu tun. Ursprünglich galt nur das südliche Drittel des Landes als Terra Bassarabum (lat.). Mit der russischen Übernahme von 1812 dehnte Russland die Bezeichnung „Bessarabien“ auf das gesamte Gebiet zwischen den Flüssen Pruth und Dnister/Dnjestr aus." Quelle: dewiki.de

3. Mehr Informationen gibt es hier:
https://www.dw.com/de/bessarabien-deutsche-und-ihr...

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Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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