Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 24: Die letzten Schultage oder: Ein Glas Kirschkompott zum Abschied

Foto: Angelika Di Girolamo
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Alle Lausbubengeschichten Täglich wurden die neuesten Frontmeldungen empfangen, und was man hörte, war nicht erfreulich. Die Front kam immer näher. Im Wehrmachtsbericht hieß es „die Front wird begradigt“. Man sah auch ohne diese Meldungen, dass es dem Ende zuging, denn das schöne Städtchen Mogilno glich einem großen Lazarett. Alle größeren Räumlichkeiten wurden beschlagnahmt und mit Verwundeten voll gestopft, die mit Sonderzügen am Bahnhof ankamen.
Auch unsere Schule und das gesamte Schülerheim mussten geräumt werden. Der Unterricht wurde an wechselnden Orten gehalten, mal hier mal dort in der Stadt, wo man gerade Platz fand. Wir Kinder vom Schülerheim wurden in Privathäusern untergebracht.
Mein Freund Erich und ich wurden beim Leiter des Gesundheitsamtes einquartiert. Die Familie Hampel hatte selbst zwei Kinder, die Frau war sehr nett und bemutterte uns wie ihre eigenen Kinder.
Freund Gerhard und Artur kamen in ein größeres Mietshaus, wo noch ein Zimmer leer stand. Dies war leidlich möbliert; es gab in der Mitte einen Tisch mit vier Stühlen, zwei Betten und einen Kleiderschrank. Der Schrank, ein uraltes Möbelstück, hatte Seltenheitswert. Oben hatte er eine geschnitzte Krone, in den Türen Einlegearbeiten aus verschiedenen Hölzern, kurz, ein Stück für Kenner. Für uns am wichtigsten aber war die sturmfreie Bude.
Bei unserer Familie Hampel ging es immer sehr gesittet zu, darum hielten wir uns am liebsten bei Gerhard und Artur auf, wir nannten das „Schularbeiten machen“. Da in der Schule sowieso nicht mehr viel geboten wurde, waren wir meistens am Toben, spielten „Blinde Kuh“, machten Hahnenkämpfe und rauchten Kräutertee, dass es nur so qualmte und die Bude ganz duster wurde. Die schönen Holzfüllungen im Schrank, die schon ziemlich locker saßen, haben wir entfernt, und nun hatten wir auch noch ein Kasperltheater.
Artur, schon von Natur aus ein Kasper, im Wesen und im Aussehen, übernahm die Hauptrolle. Er saß nun im Kleiderschrank und riss seine Possen. Jede Grimasse und alle Faxen wurden von uns Zuschauern mit viel Applaus honoriert, die Begeisterung war riesig und die Bude bebte.
Plötzlich flog die Tür auf, eine junge Frau stand da, rot vor Zorn, und beschwerte sich lautstark über diesen unverschämten Krach. Ganz verdattert standen wir da, und Artur saß noch im Kleiderschrank. Die Situation muss wohl komisch gewirkt haben, denn Schimpfen und Zetern der Frau wichen einem sanften Lächeln und mit gütiger Stimme fragte sie, den Blick zu mir gerichtet: „Bisch du net dr Schullehrers Brunchen?“ Ein zaghaftes Kopfnicken war die ganze Reaktion meinerseits. „Ond bisch du dr Richters Gerhard?“ Ebenfalls ein Kopfnicken. Als sie dann den Kasper im Kleiderschrank mit seinem selten dämlichen Gesichtsausdruck erblickte, da war es aus mit der Beherrschung, und laut lachend fragte sie ihn: „Ja, bisch du net ’s Bublitze Artur?“ Auch hier ein Kopfnicken.
Aller Zorn war wie weggeblasen, und es kam die große Aufklärung. Die Frau war die Schwester des Schreiners von Eigenheim, der ein guter Freund meines Vaters und ein direkter Nachbar zu Arturs Elternhaus war. Weil die Dorfbewohner in alle Winde verstreut angesiedelt wurden, hatte man keinen Kontakt zueinander. Es war ein kleines Wunder, dass sie hier gleich drei Eigenheimer Kinder auf einmal traf. Die Frau, namens Erna, war die Sekretärin des Herrn Landrat und hatte ihre Wohnung direkt über uns.
Trotz aller Freude wurden wir gebeten, nicht gar so laut zu sein, was wir auch hoch und heilig versprachen. Kurz danach erschien sie noch einmal, aber diesmal in ganz anderer Stimmung, und stellte uns einen großen Teller mit Weihnachtsgebäck auf den Tisch.

Die Lage wurde immer ernster. Die Züge, die in Richtung Westen fuhren, waren überfüllt mit Flüchtlingen und Verwundeten. Die Schulleitung sah sich gezwungen, die Schule zu schließen und uns nach Hause zu schicken.

Die Stimmung im Dorf war mies. Alle Hoffnung, dass sich das Blatt noch wendet, war bei den Erwachsenen schon längst dahin, nur wir Pimpfe glaubten noch an einen Endsieg. Mutter war am Packen und Heulen. Widerwillig musste ich mithelfen. Nach einigen Tagen war die Front schon in nächster Nähe. Man hörte den Kanonendonner und nachts sah man Lichtblitze und Leuchtkugeln am Himmel stehen. Es hieß, russische Panzerspitzen seien bereits in Kruschwitz, einem Städtchen, nur sechzehn Kilometer von uns entfernt. Von unserem Nachbarn bekamen wir ein Pferdefuhrwerk, das mit dem Nötigsten beladen wurde. Der Treck versammelte sich in der Dorfmitte.

Am Nachmittag des 18. Januar 1945 wurde vom Bürgermeister der Aufruf zur Abfahrt gegeben. Nun begann also die Flucht. Das Thermometer zeigte –22 °C an.

Ich ging noch einmal ins Haus zurück, holte aus dem Keller ein Glas Kirschkompott, setzte mich auf die Eingangstreppe und genoss den Kompott, den ich immer so sehr mochte. Wahrscheinlich in einer gewissen Vorahnung, dass nun auf uns karge und schwere Zeiten zukommen werden. Dann stellte ich das halb leere Glas auf der Treppe ab und rannte dem Treck hinterher.

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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