Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 18: Winterfreuden oder Schlittenfahrt mit Renate

Alle Lausbubengeschichten Ja, der Winter hatte auch hier im Warthegau seine Reize, obwohl die Landschaft eben war wie ein Brett. Skier und somit auch das Skifahren waren für uns Fremdwörter, dafür hatten wir aber genug Wasser und bei kräftiger Winterkälte riesige Eisflächen. Der See in seiner Größe und Tiefe fror lange nicht zu, aber nach ausgiebigem Herbstregen waren Wiesen und Felder mit weitläufigen Wasserlachen überzogen, oftmals bis zu einem halben Kilometer lang. Diese seichten Seen verwandelten sich schon nach dem ersten Frost in glatte Eisflächen. Kaum war eine zu Ende, da war man schon wieder auf der nächsten, so konnte man weite Schlittschuhtouren auf dem Eis zurücklegen ohne das geringste Risiko beim Einbrechen mehr als nasse Stiefel zu holen.
So nach und nach setzte dann der Winter ein, mit viel Schnee und Temperaturen bis – 20 ° und mehr. Der See lag erstarrt da, glatt wie ein Spiegel, lockte uns an und reizte uns unwahrscheinlich, ihn endlich zu betreten. Wie wir mit dieser Situation umzugehen hatten, lernten wir sehr schnell von den Älteren und auch durch eigene Erfahrungen, Belehrungen seitens der Eltern gab es natürlich auch.
Instinktiv und vorsichtig abwägend wurde am Ufer mit Steinen und Prügeln die Tragfähigkeit des Eises getestet. Aber dann konnte uns keine Macht der Welt mehr davon abhalten kleinere oder größere Schlittschuhtouren zu unternehmen. Wenn der Wind kräftig blies, was er fast immer tat, schnitten wir uns einen Bund Schilf ab, das es da in rauen Mengen gab, der wurde in die Arme geklemmt und möglichst hoch und etwas aufgefächert gehalten. Diese Schilffahnen dienten uns als Segel, so erreichten wir ein beachtliches Tempo.
Wenn der Wind mal kurz aussetzte und dann plötzlich wieder blies, oder er kam von einer anderen Richtung, musste man mit seinem Segel blitzschnell reagieren sonst war ein Sturz unumgänglich. Mit der Zeit beherrschten wir das von uns und für uns erfundene Eissurfen perfekt. Es war der Gipfel unserer Winterfreuden.
Diese Freude wurde etwas getrübt. Wie im Sommer so auch im Winter, nur ein halbes Jahr älter, gab’s da noch Renate. Bei aller Liebe zu Gerhards kleiner Schwester, wenn wir sie zu hüten hatten, war sie für uns halt ein Klotz am Bein. Kann man das elfjährigen Buben verdenken?
Wir Jungs nahmen sie auf dem Rodelschlitten mit aufs Eis. Nicht immer, aber immer öfter!
Renate saß also fein eingemummt auf dem Schlitten und hat die rasante Fahrt sichtlich genossen. Ab und zu konnte nicht vermieden werden, dass der Schlitten heftig schlingerte, dann kullerte Renate wie ein Wollknäuel auf die Eisfläche. Wenn wir sie wieder leidlich eingepackt und auf dem Schlitten platziert hatten, war sie mit sich und der Welt recht zufrieden.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit konnten wir die Kleine wohlbehalten und quicklebendig bei ihrer Mutter abliefern, und kein Mensch fragte danach, wie oft wir sie bei der tollen Fahrt verloren hatten. Mutter, Kind und auch wir waren glücklich und zufrieden und konnten zum Schluss sagen: „ Es war doch wieder ein schöner Tag.“
Wie üblich auf den Bauernhöfen, so war auch auf dem Hof meines Freundes ein kräftiger Schäferhund namens Puma. Immer wenn wir Jungs den Hof verließen, ob mit dem Fahrrad, zu Fuß oder im Winter auch mit dem Rodelschlitten, machte sich Puma lautstark bemerkbar, denn oftmals war er unser Spielgefährte, was ihm sichtlich viel Spaß bereitete.
An diesem Tag hatten wir Renate wieder auf dem
Rodelschlitten dabei, als Puma wie wild an seiner Kette zerrte und ein lautes Jaulen hören ließ. Mein Freund Gerhard löste den Hund von der Kette, und dieser genoss nun seine Freiheit und rannte ausgelassen um den Schlitten herum.
Seine überschüssige Energie wussten wir bald zu nutzen, denn, wie schon in vielen Fällen, fanden wir auch diesmal die beste Lösung. Wir banden Puma an den Schlitten. Der war mit seiner neuen Aufgabe voll zufrieden und trottete mit Renate im Schlepp gemächlich neben uns her. Puma hatte sich sehr schnell an seine Rolle als Zugtier gewöhnt, so dass wir ganz gemütlich auch hinterherlaufen konnten.
Plötzlich tauchte kurz vor uns eine Katze auf, Puma stellte die Haare, ließ ein dumpfes Knurren hören und im gestreckten Galopp verfolgte er die Katze, die notwendigerweise um ihr Leben rannte. Bis wir richtig begriffen, was da geschehen war, war Puma mitsamt der Renate über alle Berge. Zu Tode erschrocken rannten wir hinterher und wurden auch bald fündig. Als erstes ein Kissen, einige Meter weiter eine Decke, als nächstes wieder eine Art Kissen, dann schließlich eine Windel und zu guter Letzt Renate, die mit nacktem Hinterteil im Schnee lag und anscheinend nicht so recht begriff wie ihr geschah.
Puma gebärdete sich wie wild. Mit dem umgekippten Schlitten an der Leine versuchte er kläffend an einem Baum hochzuspringen, auf dem die Katze saß. Katzbucklig und mit gesträubten Haaren fauchte sie siegesbewusst auf den tobenden Hund herunter.
Sehr erleichtert darüber, dass Renate, außer einem eiskalten Popo, nichts weiter passiert war, packten wir sie wieder fein säuberlich und warm ein und lieferten sie brav, wie immer, bei Muttern ab, die uns sogar ein Lob spendete, weil wir das Kind so nett betreut hatten.
Renate lebt heute (2004) bei Toronto in Kanada und ist eine gesunde und lebensfrohe Frau mit Familie.

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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