Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 9: Brunchen macht Zottla

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In einer dieser Erinnerung Bruno Gässlers an seine frühe Kindheit riss sogar seiner sehr geduldigen, ruhigen und sanftmütigen Mutter einmal der Geduldsfaden - doch sie besann sich schnell auf ihre Fähigkeit, Probleme pragmatisch zu lösen ... 

Kinder wollen immer beschäftigt sein. Dies galt auch für mich. Das Problem war nur, dass ich mich gerne mit Mädchenarbeit wie Sticken und Häkeln befasste, was damals für Jungen geradezu unmöglich war. Deshalb war es auch zwischen mir und Mutter ein Geheimnis, das kein Mensch erfahren durfte, sonst hätten mich meine Spielkameraden verspottet und gehänselt.
Für Mutter war es ein wahrer Segen. Wenn sie ihre Ruhe vor mir haben wollte, nahm sie einen Fetzen Stoff, malte mit Bleistift eine Figur drauf, z.B. ein Schäfchen, eine Katze, ein Pferd usw. Diesen Stoff spannte sie in einen Stickrahmen, drückte mir Nadel und Faden in die Hand, und ich ging mit einem Feuereifer zu Werke. Viel Anleitung brauchte ich nicht, denn ich hatte Mutter schon oft genug bei der Handarbeit beobachtet. Sie war eine wahre Künstlerin darin.
Handarbeiten waren bei den Frauen sehr beliebt, denn in den langen Wintertagen hatten sie eine Menge Zeit. So entstanden da gestickte Tischdecken, Kissenbezüge und Wandbehänge in Nadelmalerei, Lochstickerei und in Spitze. Ihr wahres Können zeigten die jungen Frauen und Mädchen, wenn sie ihre Landestracht stickten. Mit viel Liebe wurde in das Schultertuch ein Strauß mit Klatschmohn, Kornblumen und Ähren gestickt. Ebenso in die Schürze und den Rocksaum. Jede wollte die schönste Stickerei vorzeigen. Das Schultertuch, welches das Prunkstück der Tracht war, wurde ringsum mit Fransen aus Seidenfäden umflochten, die man bei uns Zottla nannte. So wurden auch gestickte Tischtücher und Wandbehänge mit diesen Zottla versehen. Auch dieses „Zottlaflechta“ wurde mir von Mutter beigebracht, und ich war sehr stolz, wenn ich wieder mal so ein Gewirr aus Wolle oder Garn vollbracht hatte.

Eines Tages saß ich wieder einmal im Esszimmer bei meiner Stickerei. Das Esszimmer war ein großer gemütlicher Raum, in dem in der Mitte ein Tisch stand, an dem gut zwölf Personen Platz fanden. Da am Vorabend eine Sitzung der Kirchenväter stattgefunden hatte, lag noch eine schöne weiße Damastdecke auf dem Tisch, die Mutter im Laufe des Tages wegräumen wollte. Schon der abnormen Größe wegen war die Tischdecke ihr ganzer Stolz.
Mutter hatte in der Küche, die an das Esszimmer angrenzte, zu tun. In der Hoffnung, ich sei voll beschäftigt, kam dann ab und zu die Frage: „Brunchen, was machsch?“ Prompt kam jedes Mal die Antwort: „Brunchen macht Zottla.“
Nun, die Antwort war auch wahrheitsgemäß, denn ich hatte eine Schere in der Hand, schnitt in den Rand des Tischtuchs etwa zehn Zentimeter lange Streifen, nahm immer drei zusammen und flocht so treu und brav eine Zottel nach der anderen, denn ein Tischtuch ohne Zottla war nur eine halbe Sache.
Als meine Mutter dann doch einen Blick ins Esszimmer warf, erscholl ein Schrei des Entsetzens aus ihrer Kehle. Dies war einer der wenigen Momente, wo selbst sie die Beherrschung verlor. Kurz entschlossen verabreichte sie mir die Tracht Prügel, die ich verdient hatte, und zur Strafe musste ich in die Ecke stehen.
Doch auch hier zeigte sich Mutters Ideenreichtum. Sie schnitt die Zottla ringsum ab, brachte einen neuen Saum an, und schon war der Schaden behoben, wenn auch das Tischtuch nun schmäler war.

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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