Wie vor Jahr und Tag...

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Wie vor Jahr und Tag stehst du hier - der Platz am Wegesrand, gehört alleine dir. Oft schaue ich dich an beim Vorübergehen- manchmal bleib ich stehen um deinen Baumwipfel anzusehen. Dann denke ich mir wie mag das wohl sein immer am selben Ort zu stehen jahraus - jahrein.
Was hast du alles schon gesehen und erlebt in deinem langen Leben.

Lieber Baum erzähle mir von dir…

Wie vor Jahr und Tag stehe ich an diesem Platz. Ein Eichhörnchen hat meine Eichelsamen an diesem Ort eingegraben - es ist meine Bestimmung hier zu stehen. Hier im Wald bin ich nie alleine - wir Bäume leben gerne zusammen. Die neckische Buche wirft mir ab und zu eine Buchecker herüber oder die fesche Fichte einen Tannenzapfen. Ich revanchiere mich dann mit ein paar Dicken Eicheln. Jeden Tag besuchen mich verschiedene Waldtiere - darüber freue ich mich sehr. Die flinken Eichhörnchen flitzen durch mein Geäst oder der hübsche Eichelhäher schaut kurz bei mir vorbei. Kleine Waldmäuschen huschen um meinen Stamm und graben Mäuselöcher in die Erde. Wenn es dunkel wird höre ich es um mich herum nur noch schmatzen - die Wildschweine mit ihren kleinen Frischlingen kommen nachts aus dem Dickicht und fressen meine Eicheln. Oft gibt es kleine Zankereien unter den Frischlingen - jeder will die Eicheln für sich alleine haben - dann muss die Muttersau einmal kräftig grunzen, dann ist die kleine Rasselbande wieder ruhig. Ja die Wildschwein Mutter hat ihre Sprösslinge gut im Griff. Wenn alle satt sind zieht die ganze Wildscheinrotte wieder weiter und sucht nach anderen Leckereien im Wald. Kaum sind sie verschwunden sehe ich funkelnde Äuglein zwischen den Sträuchern. Die scheuen Rehe haben geduldig gewartet bis die Wildschweine satt waren. Langsam, ja fast ängstlich kommen sie aus ihren Verstecken hervor und fressen meine Eicheln. Es sind noch genug da - es war ein gutes Jahr 2019 und 2020. Es gab viel Wärme und Sonne – es war ein trockenes Jahr. Anders als die Fichte vertrage ich das gut. Im Frühling habe ich mich sehr über den Regen gefreut - ich habe gespürt wie viel Saft und Kraft in meinen Ästen war. Es war wunderschön als meine ersten Blätter und Blüten wuchsen. Ich spürte es wird ein gutes Jahr - ich werde viele Früchte tragen und die Tiere werden sich daran laben. Solche Jahre werden Mastjahre genannt – eine Hülle und Fülle an Baumfrüchten wachsen in solchen Mastjahren. Einen Überschuss an Nahrung produzieren wir Bäume. Dann kann es sein, dass wir die nächsten 5 bis 8 Jahre nur eine normale oder auch spärliche Anzahl an Eicheln haben. Und danach kommt wieder ein Mastjahr. Außergewöhnlich war, dass 2019 und 2020 ein Mastjahr war – es lag wahrscheinlich am Klima. Meine ersten Blüten und Eicheln bekomme ich erst wenn ich ca. 40 Jahre alt bin – solange trage ich keine Früchte. Wenn ich ca. 60 bis 80 Jahre alt bin erreiche ich erst eine nennenswerte Eichelmenge. Ein hohes Alter denkt ihr – aber bei meiner Lebenserwartung eine kurze Zeit. Ich kann bis zu 800, ja manchmal sogar 1000 Jahre alt werden. Eine lange Zeit – aber es wird mir nie langweilig.

Hauptsächlich im Sommer sind viele Menschen bei uns im Wald unterwegs. Sie schätzen im Sommer unser schattenspendendes Blätterdach. Ja im Sommer ist immer viel los. Überall hört man fröhliches Kinderlachen, Hunde springen vergnügt umher. An den Grillplätzen steigt Rauch empor, Musik ertönt aus mitgebrachten Radios. Es wird gefeiert, gegrölt, gesungen, gestritten und wieder vertragen. Ja und dann sieht man etwas Wunderschönes, die Frischverliebten Pärchen laufen Händchen haltend durch den Wald, es wird getuschelt und gelacht und voller Übermut ein Herzchen in meine Rinde gemacht. Das gefällt mir nicht, das tut mir weh. Doch kaum werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger leert sich der Wald - die Grillplätze sind leer und es wird wieder ruhiger im Wald.

Der Herbst hat nun begonnen - vereinzelt habe ich schon gelbliche Blätter bekommen. Ich werde nun alle für mich wichtigen Stoffe aus den Blättern in meinen Stamm und meine Wurzeln ziehen. Bald werde ich ein buntes Blättergewand tragen und der frische Herbstwind wird sie mir von den Ästen blasen. Das Laub schützt meine Wurzeln und dient mir als Dünger im Frühling. Die Igel werden sich wieder ein Winterquartier mit meinen Blättern schaffen und für viele andere Tiere wird mein Laub als Nahrung dienen. Im September und Oktober fallen meine Eicheln auf die Erde und die Waldtiere haben wieder Nahrung für die kalte Jahreszeit.

Ja das Jahr neigt sich dem Ende zu. Bald wird es Winter werden und die Tiere werden sich um meinen Stamm versammeln und die restlichen Eicheln fressen. Es beginnt eine lange kalte Zeit im Wald. Die Tiere werden bald keine Eicheln mehr finden - eine schwere Zeit voller Entbehrungen beginnt. Es wird ruhig im Wald. Kahl stehe ich da - kein Blatt ist mir geblieben. Ich muss nun sparsam mit meinen Kräften haushalten, nur so werde ich die kalte Jahreszeit überstehen.

Im Frühling werde ich diese Kräfte wieder für meine Blätter und Blüten gebrauchen. Ich freue mich schon wieder darauf, wenn es in meinen Ästen kitzelt und kribbelt und die ersten grünen Triebe zu sehen sind. Dann beginnt alles Leben wieder zu erwachen im Wald und die fesche Fichte wird mir wieder einen Tannenzapfen zuwerfen…

Autor:

Heide Böllinger aus Bad Friedrichshall

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