Gärten "sehen" ohne Augen
Kann man blinden Leuten die Schönheiten der Landschaft und insbesondere der Gärten nahebringen? Für Regine Sigl aus Lauffen, die die Frauengruppe des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg (BSVW) leitet, war das keine Frage. Sie, selbst blind, fragte sich nur, wie das geht. Sie kam bei einem Spaziergang mit Gertraud Keller, Vorsitzende des Obst- und Gartenbauvereins (OGV) Hausen, ins Gespräch, und diese stellte sich der Herausforderung. Anlässlich eines Ausflugs wurde eine Gruppe Blinder mit sehenden Begleitpersonen durch den Römergarten und durch die Terrassenweinberge in der Steinhälde geleitet. Am Römergarten hatte Frau Keller zuvor mit verbundenen Augen geübt, wie man Blinden das „Römische“ nahebringen und die Jupitergigantensäule „erfahren“ kann. Der mediterrane Garten enthält viele Pflanzen mit Bezug zu den römischen Göttern. Zum Empfang hatte sie deshalb eine weiße duftende Blume in der Hand, die als Sinnbild für die Göttin Juno galt: Die Lilie. Mit Düften des Muskatellersalbeis ließen sich die Besucher geradezu berauschen. Die Frucht des Granatapfels mit dem Krönchen ließ sich gut ertasten. Unter den mediterranen Pflanzen konnten viele schmackhafte Kräuter mit dem Gaumen getestet werden. Gerne tasteten die Gäste auch den Viergötterstein der Säule ab. Besonders die Diana, mit Köcher und Bogen, hatte es ihnen angetan. Einigen imponierte die Kunst des Steinmetzen beim üppig breiten Becken der nackten Venus. Als Gaumenkitzel hatte Frau Keller extra im Backhaus panis militaris gebacken und mulsum, den römischen Gewürzwein, aufgesetzt. Zum Nachtisch wurden die Gäste mit einer frisch vom Baum gepflückten schwarzen Maulbeere verwöhnt, garniert mit einer romantischen Liebesgeschichte, die erklärte, weshalb die leckeren Beeren schwarz sind. Nach kurzer Weiterfahrt marschierten die Blinden in zwei Gruppen durch die Weinbergwege in der Steinhälde. Renate Berger vom OGV ließ beim Abtasten der Wilden Karde ihre Pflanzenkompetenz aufblitzen. Kaum jemand in der Blindengruppe hat jemals zuvor die Blüte einer wilden Möhre gesehen. Der Geruch ihrer Blätter und Wurzel ist eindeutig! Die Trockenmauern mit unterschiedlich guter Erhaltung und Neigung ließen sich gut ertasten. Noch mehr reizten die aus den Ritzen der Mauern wachsenden genügsamen Pflanzen mit unterschiedlichen Duftstoffen die Sinne. Und es gab auch ornithologische Experten, die den Gesang der Goldammern erlauschten und allen Teilnehmern die Botschaft ihrer Melodie übersetzten:“ Ich hab Dich doch so liiiiib, pip pip piiiip“!
Autor:Günter Keller aus Brackenheim |
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