Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 21: Im Schülerheim

Alle Lausbubengeschichten Mögen die Zeiten in Seehorst noch so schön gewesen sein, aber eines Tages war die Grundschule zu Ende, und Vater entschloss sich, mich in der Realschule in Mogilno anzumelden. Ein tägliches Pendeln war unmöglich, so blieb nur der Einzug ins dazugehörige Schülerheim.
Die Schule und das Schülerheim waren in einem riesigen polnischen Kloster untergebracht, das von den damaligen Machthabern enteignet und für diesen Zweck auf das feinste umgebaut wurde. Die politischen Ereignisse konnten wir in dem Alter nicht erkennen und deuten, so war uns das völlig gleichgültig, was das Gebäude einmal war.

Es lag auf einer Anhöhe, direkt am Mogilnosee. Im Erdgeschoss waren große helle Klassenräume untergebracht und in den oberen Stockwerken das Schülerheim mit Speisesaal, Küche, Schlafräume für Mädchen und Jungen. Wir waren immer unter Aufsicht einer Heimleiterin, so dass sich Unfug und Streiche, die in Internaten so üblich waren, in Grenzen hielten. Ansonsten konnte man sich selbst nur beglückwünschen, in so einem Heim gelebt zu haben, denn auf die Freizeitgestaltung wurde sehr viel Wert gelegt. Die Schularbeiten wurden gemeinschaftlich gemacht, man konnte sich ergänzen und bei Bedarf auch die Aufsicht fragen. Es wurde viel gesungen und verschiedene Spiele gespielt. Man wurde an Bett und Schrankfach zur Ordnung erzogen, und wir Jungen mussten sogar Strümpfe stopfen lernen.
Von allen sehr begehrt waren die Theaterabende. Ein beliebiges Stück aus dem Lesebuch wurde gelesen, allgemein besprochen und dann frei gespielt.
Je nach Körpergröße und Statur wurden die Rollen verteilt, und die Schauspieler erhielten eine bestimmte Frist sich zu verkleiden. Wie man diese Aufgabe löste wurde bei der allgemeinen Aussprache im Anschluss an die Vorstellung mit bewertet.
Im Laufe der Zeit entwickelten wir darin eine gewisse Geschicklichkeit. Ein Bettlaken, ein Handtuch um den Kopf, ein Schnurrbart aufgemalt, und schon war man ein Scheich. Ein langes Nachthemd, ein Sprungseil um den Leib, eine aus Pappe gefertigte Krone und eine Wolldecke als Umhang, und schon stand da der schönste König, den man sich nur denken konnte. Auf diese Art entstanden dann eine Prinzessin oder ein Hirtenmädchen, ein Prinz, Soldaten und Diener. Es sammelten sich nach und nach allerlei Requisiten an, wodurch sich das Kostümieren immer mehr vereinfachte.
Viel Wert wurde auch auf die Bewegung im Freien gelegt. Die Umgebung war dafür wie geschaffen. Der große Klosterhof, der steile Abhang zum See und der See selbst sorgten für Abwechslung aller Art.
So dann und wann hatte man doch Sehnsucht nach totaler Freiheit, dies war aber nur möglich, wenn die Heimleiterin abwesend war. Der Zufall war uns hold, denn unser Fräulein Daie hatte gute Freunde auf einem nahe gelegenen Gutshof. An diesen Besuchen lag ihr offenbar sehr viel, denn wenn einer bevorstand, dann musste das Abendessen recht zügig vorangehen. Meistens traf am Morgen schon eine Postkarte ein: „Liebe Irmi, auf Deinen Besuch heute Abend würden wir uns sehr freuen usw.“ Irgendwie hat sich das herumgesprochen.
Kaum war die Katze außer Hause, tanzten die Mäuse auf dem Tisch. Und wie sie tanzten: eine Kissenschlacht, dass die Federn flogen, war immer dabei, Ringkämpfe wurden ausgetragen, die Betten als U-Boote und Schlachtschiffe umgebaut, denn Krieg und Seeschlacht spielen waren damals an der Tagesordnung.
Schließlich wurden auch die Helden müde, und so begab man sich nach einwandfreien Aufräumarbeiten zur Ruhe. Wenn dann zu später Stunde Fräulein Daie erschien, traf sie eine selig schlummernde Gesellschaft an, und nichts deutete darauf hin, dass wir an diesem Abend „Freiheit“ gespielt hatten.

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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