Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 20: Ferien bei Onkel Hugo

Alle Lausbubengeschichten  Eigentlich hatten wir in Seehorst alles, was man sich für die lange Ferienzeit wünschen konnte. Den See mit der Insel, die von einer riesigen Seerosenkolonie umgeben war, und auf der verschiedene Vogelarten ihre Brutstätten hatten, z.B. Wildenten, Taucher, Fasane, Rebhühner. In Amsee gab es die Zuckerfabrik, wo man ab und zu mit etwas Glück ein Stück braunen Kandis oder ein wenig von dem köstlichen Kunsthonig ergattern konnte. Mit unseren Fahrrädern waren wir sehr beweglich und konnten Schulfreunde in den Nachbargemeinden besuchen. Also Zeitvertreib gerade genug und trotzdem war die Sehnsucht nach Abwechslung sehr stark und diese Abwechslung war ein Ferienaufenthalt bei Onkel Hugo und Tante Dori.
Onkel Hugo, Mutters Bruder, war der Besitzer eines großen Gutes. Ein Gehöft, wie man es manchmal in Filmen zu sehen bekommt: ein großes Herrenhaus, vielen Stallungen und mitten in dem großräumigen Hof einen Weiher. Hinter dem Haus schloss sich ein großer Park mit uralten Bäumen und schönen Spazierwegen an. Ein wahrer Glücksfall war, dass ein Neffe von Tante Doris Verwandtschaft, der Heinz, ebenfalls die Ferien auf dem Gut verbrachte. Da Heinz etwa gleich alt war wie ich und mir sonst auch ziemlich gleich gesinnt, waren wir binnen kurzer Zeit gute Freunde. Wir waren überall zu finden und meistens sehr aktiv, was den Onkel manchmal ganz schön auf die Palme brachte.
Das Husarenstück, das wir uns leisteten und dabei mehr Glück als Verstand hatten, geschah an einer Windmühle. Diese stand etwa drei Kilometer vom Gut entfernt auf einem Hügel und war noch in voller Tätigkeit. Eines Tages standen wir staunend vor diesem Wunderwerk der Technik, nie zuvor hatten wir eine Windmühle im Original gesehen, dazu noch in voller Aktion. Die mächtigen Flügel reichten herunter bis fast auf den Boden, ganz gemächlich und im Zeitlupentempo zog ein Blatt nach dem anderen dicht an unseren Nasen vorbei, so nahe standen wir schon. Wir betrachteten die Konstruktion der Flügel, die eigentlich nur ein Gerippe aus Kanthölzern und Latten waren. Schauend und träumend schwebten wir in unserer Phantasie mit einem Flügel ganz nach oben und gemächlich wieder herunter zum Ausgangspunkt. Ja, das könnte klappen!
Ich hatte als erster die Sprache wieder gefunden und wie elektrisiert Heinz meinen Plan ausgebreitet: „Ich steige jetzt als erster auf das Blatt, und wenn ich ganz oben bin, dann steigst du auf, dann haben wir wieder ein Gleichgewicht.“ Heinz hat mir bestätigt, dass er genau dasselbe gedacht hatte. So haben wir den Gedanken gleich in die Tat umgesetzt. Der Flügel kam, ich sprang, gewandt wie eine Katze auf, fand an den Holmen genügend Halt und die Fahrt begann. Heinz stand sprungbereit da und wartete auf seinen Start. Mein Flügel hob mich stetig höher, was für ein Gefühl! Langsam kam ich erst in Schräglage, dann in Querlage, und plötzlich begriff ich, dass ich oben auf dem Kopf stehen und mich nicht mehr würde festhalten können. Da bekam ich es mit der Angst zu tun und ließ mich einfach fallen.
Teils bewusst, teils vielleicht auch instinktiv, rollte ich mich zusammen und kullerte den ziemlich steilen Hügel hinunter. Total benommen lag ich da, Heinz stand wie ein begossener Pudel neben mir und hat zaghaft getestet, ob noch ein wenig Leben in mir steckte. Langsam kam ich wieder zu mir und konnte auch wieder klar denken und feststellen, dass mir rein gar nichts passiert war. Mein Glück war wohl, dass ich an einer sehr steilen Stelle gelandet war und mich sehr gut abgerollt hatte, sonst hätte ich die immerhin zehn bis zwölf Meter Fallhöhe nicht so schadlos überstanden. Oder sollte ich mal wieder meinen Schutzengel bemüht haben?
Sehr schweigsam und sichtlich deprimiert traten wir den Heimweg an, und kein Mensch erfuhr von unserem Erlebnis mit der Windmühle.
Heute noch, wenn ich eine Windmühle sehe, muss ich stets an Heinz und die Ferien bei Onkel Hugo denken.

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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