Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 10: Einmal genügend Geld

Screenshot von S.5 des Mitteilungsblattes des Bessarabiendeutschen Vereins, als PDF-Datei über Suchbegriff Knochahutscha zu finden
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Diese Geschichte hat einen sehr ernsten Hintergrund, der damals dem neunjährigen Bruno natürlich zunächst verborgen blieb: Die deutschen Siedler, deren Vorfahren rund 100 Jahre zuvor ihre Heimat nach wiederholten Missernten aus Hunger, Not und weiteren Gründen  verlassen hatten, dem Aufruf des russischen Zaren gefolgt waren und sich nach einer gefährlichen langen Reise in Bessarabien eine neue Existenz überwiegend als Landwirte aufgebaut hatten, verloren wiederum ihre Heimat, in der sie geboren und aufgewachsen waren. 

Mehr Informationen dazu gibt es hier

Bruno Gässler schreibt: 

"Im Juni 1940 wurde Bessarabien von russischem Militär besetzt. Die deutschen Dörfer glichen einem Hühnerhaufen, in den ein Habicht eingefallen war. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Als man sich für die Umsiedlung nach Deutschland entschieden hatte, kam eine deutsch-russische Umsiedlungskommission, um alles vorzubereiten.
Für unser Dorf spielte sich wieder alles im Schulhaus ab. Vater und viele schreibkundige Helfer waren fast Tag und Nacht beschäftigt, um die Personalien der Bewohner und ihr Vermögen zu registrieren. In Mutters Küche ging es drunter und drüber, denn die Kommission und die Helfer mussten bewirtet werden. Beim Berechnen und Umrechnen der Vermögen mussten verschiedene Regeln beachtet werden. Für das Kleingeld in Münzen galt, dass diese nicht umgetauscht und auch nicht über die Grenze mitgenommen werden durften; somit waren diese wertlos.
Mir war bekannt, dass die sonntäglichen Opfergelder, die meistens 1- oder 2-Lei-Münzen waren, in einer großen Kasse bis zur Abrechnung in Vaters Arbeitszimmer aufbewahrt wurden. Da diese Gelder nun ungültig waren, haben die Kirchenväter erlaubt, dass wir Kinder, meine vier Freunde und ich, alle zwischen neun und elf Jahren, damit spielen durften.
Dies war natürlich eine riesige Freude, mit richtigem Geld hantieren zu können; so wurden die Münzen gleichmäßig an die Mitspieler verteilt, und wir spielten Kaufladen mit Getreide und Mais. Wir handelten einfach auch mit dem Inhalt unserer Hosentaschen, mit Pfeiferle und Blasröhrle. Aber die Krone unserer Besitztümer waren die Knochahutscha, die wir aus Pferdeskeletten draußen bei den Lehmgruben herausgetrennt, gereinigt und dann angemalt hatten. Es durfte nur der Gelenkknochen des Sprunggelenkes sein, dessen Form mit etwas Phantasie an ein Pferd erinnerte. Nun hatten wir Braune, Rappen und Schimmel, mal mit, mal ohne Bless; auch in derGröße waren sie verschieden. Wir trieben Pferdehandel wie echte Bauern. Wir spielten eifrig und feilschten hartnäckig, genau so, wie wir es von den Großen gelernt hatten. Und die Münzen wanderten von einem zum anderen, aus einer Hosentasche in die andere.
Es vergingen nur noch einige Tage, dann hieß es Fertigmachen zum Abtransport. Frauen und Kinder sollten mit Handgepäck in Omnibussen und Lastwagen nach Kilia, einem Donauhafen, gebracht werden. Von dort sollte die Reise per Schiff nach Deutschland weitergehen.
Um uns Kinder hat sich kein Mensch gekümmert. Die Mütter waren mit Packen und Verladen beschäftigt, und die Männer mussten die Pferdewagen zur Abfahrt richten. Am frühen Morgen setzte sich der Konvoi in Bewegung, quer durch die geliebte Heimat Bessarabien. Viele Tränen wurden vergossen, doch für die Kinder war es mal wieder etwas Neues und auch Spannendes.
Am Hafen angekommen, wo auch die Grenzstation war, ging es durch die Kontrolle aufs Schiff. Es wurden einige Stichproben gemacht, aber uns Kindern schenkte man kaum Beachtung. Das Schiff legte ab, und wir befanden uns wieder auf rumänischem Hoheitsgebiet. Auf dem Schiff gab es einen Kiosk, an dem man alles Mögliche kaufen konnte. Und plötzlich fiel uns das Geld wieder ein, mit dem wir gespielt hatten, und das noch alles in unseren Taschen war. Da wir uns wieder auf rumänischem Gebiet befanden, hatten die Lei-Münzen wieder volle Gültigkeit. Es war herrlich, so viel Geld in den Hosentaschen zu haben.
Wir kauften Getränke, Schokolade und Bonbons und lebten in Saus und Braus. Wahrscheinlich haben wir auch damit angegeben, denn die Sache sprach sich nach und nach herum. Auch meine Mutter bekam Wind von meinem Reichtum.
Zunächst fuhr ihr der Schreck in die Glieder, sie musste an die Grenzkontrolle denken; hätte man uns mit dem Geld erwischt, so wären die Eltern verantwortlich gewesen. Ich musste also mein schönes Geld abliefern. Mutter nahm es in Verwahrung und kaufte damit das nötigste, so dass es mir doch wieder zugute kam, aber fein dosiert."

Nachtrag von Angelika Di Girolamo: 

Über die Knochahutscha wollte ich etwas mehr erfahren und stieß bei meiner Recherche gleich wieder auf Bruno Gässler, dessen Erklärung des Wortes in einer Veröffentlichung des Bessarabiendeutschen Vereins vom März 2021 abgedruckt wurde, siehe Abbildungen 1 und 2

Link zu Exponaten des Bessarabiendeutschen Museums in Stuttgart: hier 

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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