Lausbubengeschichten von Bruno Gässler 15: Der Staudamm

Mit dem Boot auf dem Pakosch-See
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Alle Lausbubengeschichten Die "Reise nach Deutschland" nahm für Bruno, seine Familie und seine Nachbarn nach der Umsiedlung, faktisch Vertreibung aus Eigenheim, Bessarabien,  einen ganz unerwarteten Verlauf: statt nach Schwaben, der ursprünglichen Heimat der im frühen 19. Jahrhundert nach Bessarabien ausgewanderten Vorfahren, ging es zunächst für ein Jahr nach Tschechien (geschichtliche Informationen hierzu in Lausbubengeschichte 11) und im Anschluss über 700 km nordöstlich weiter nach Polen, in den Ort Trląg (eingedeutscht: Seehorst), am Pakosch-See. 

Der geschichtliche Hintergrund hierzu ist folgender: 
"Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Er kostete in sechs Jahren knapp 60 Millionen Menschen das Leben. Am längsten litt Polen unter der brutalen Besatzungspolitik der Nationalsozialisten – eine Tatsache, die das deutsch-polnische Verhältnis auch nach Kriegsende viele Jahrzehnte belastete."
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 

Weitere Informationen: 
https://m.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/69009...

Bruno Gässler schreibt zur Reise nach Polen und seinen ersten Eindrücken dort: 

"Endlich, nach einem Jahr Lagerleben in Karolinengrund, ging die Reise weiter in den Warthegau. Das Dorf, in dem mein Vater wieder eine Anstellung erhielt, hieß Seehorst.
Das einzige Übel für mich war, dass nur einer meiner treuen Gefährten mit mir nach Seehorst kam, das war mein Freund Gerhard. Doch hier entstanden sehr schnell wieder neue Freundschaften, denn es ging den andern, die hier angesiedelt wurden, kein Haar besser. Nach kurzer Zeit hat man sich auch mit den Polenkindern sehr gut verstanden. Wir lernten dadurch polnisch und sie deutsch, was von den Herren der Partei gar nicht gerne gesehen wurde, ja, es war geradezu verboten, was uns aber in keiner Weise störte.
Die Umgebung war für uns Lausbuben wie geschaffen. Ein riesiger See weckte bei uns die Abenteuerlust und sorgte für jede Menge Abwechslung: im Sommer mit Baden, Paddeln und Fischen und im Winter mit allerlei Spielen auf dem Eis. Unser liebster Platz war das Bollwerk, eine Anlegestelle für Lastkähne, die Zuckerrüben oder Kartoffeln transportierten. Das Bollwerk war etwa 1 ½ Meter höher als der  Wasserspiegel, so machten wir Köpfer und Salto ins Wasser, spielten in der Nähe Fuß- und Handball und vertrieben uns so die Zeit.
Dies ging eine Weile gut, dann brauchten wir wieder eine Abwechslung. Ganz in der Nähe des Bollwerks floss ein kleiner Bach, mehr ein Rinnsal, in den See. Aus lauter Langeweile dämmten wir das Wasser ein und hatten sehr schnell eine große Pfütze. Mehr und mehr machte uns das Spaß, da gesellten sich noch einige Polenkinder dazu, und wir hatten die schönste Baustelle. Sofort war einer Ingenieur, Bauführer, zwei waren Pferde und mussten den Handwagen ziehen, dazu der Kutscher und die Bauarbeiter. In einer nahe gelegenen Wiese wurden Rasenstücke ausgestochen, und der Damm wuchs und wuchs, und der See wurde größer und größer. Wir waren mit unserem Damm so beschäftigt, dass wir nicht merkten, wie weit sich das Wasser angestaut hatte.
Der Bach war die Grenze eines Bauernhofs und floss am Schweinestall vorbei. Plötzlich riss uns eine laute Stimme aus unserem Arbeitseifer. Ein Knecht kam wild gestikulierend auf uns zugerannt und schrie: „Oi, Matka Boska, Kinder alle verriekt, Schwein gucke mit Hals aus Wasser und gleich versaufe!“ und mit einer Allmachtswucht rannte er gegen unseren Deich. Die Wassermassen ergossen sich wie ein Wildbach in den See, und wir machten dumme Gesichter. Ganz verdutzt standen wir da, als der Knecht wieder das Wort ergriff und sagte: “Kinder machen alles wieder gut, Gras auf Wiese, sonst ich sagen Panje oder Bürgermeister.“
Das war natürlich ein faires Angebot, das wir ohne Murren annehmen mussten. So haben wir dann schweren Herzens alles wieder aufgeräumt, aber nicht mit dem Eifer, mit dem wir den Damm gebaut hatten."

Autor:

Angelika Di Girolamo aus Künzelsau

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